Norwegens nachhaltige Neuorientierung bietet Chancen
27.05.2020
Die Unternehmen in Norwegen und Deutschland sind hoch entwickelt und qualitätsorientiert, sie können als Kooperationspartner gemeinsam neue Lösungen entwickeln. Wo Michael Kern, Geschäftsführer der AHK Norwegen, Chancen für deutsche KMUs sieht, erläutert er im Interview.
Herr Kern, vor einem Jahr hat die norwegische Regierung eine neue Deutschland-Strategie veröffentlicht. Wie hat sich dies auf die deutsch-norwegischen Wirtschaftsbeziehungen ausgewirkt?
Die erste formalisierte Deutschlandstrategie stammt aus dem Jahr 1999. Deutschland steht als zweitwichtigster Handelspartner also schon lange im Fokus des norwegischen Außenhandels. Die aktuelle Version ist ein Indikator für die bestehenden starken bilateralen Beziehungen und gleichzeitig ein Ansporn, diese weiter zu intensivieren. In den vergangenen Monaten wurden viele bilaterale Projekte fortgeführt oder initiiert. Beispiele dafür sehen wir in den Bereichen Energie, Ocean Technology, Industrie 4.0 und Digitalisierung, Nachhaltigkeit sowie Infrastruktur – und nicht zuletzt durch die verstärkte Präsenz Norwegens mit Gemeinschaftsständen auf deutschen Messen. Die Handelsbilanz bestätigt die positive Entwicklung: Für den Import deutscher Waren und den Export norwegischer Festlandswaren war 2019 ein Rekordjahr.
Als AHK Norwegen setzen wir uns für die bilateralen Handels- und Geschäftsbeziehungen ein. Wir sehen einen höheren Beratungsbedarf zu marktbezogenen und rechtlichen Themen sowie steigende Mitgliederzahlen. Bei unserer Mitgliederversammlung am 6. März ging die norwegische Außenministerin Ine Marie Eriksen Søreide auf die Strategie ein und bestärkte uns darin, als Partner für Wirtschaftsakteure in beiden Ländern einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung dieser zu leisten.
Können auch deutsche KMUs von dieser Strategie profitieren? Wo sehen Sie die besten Anknüpfungspunkte für diese Unternehmen?
In den Medien steht, wenn Siemens ein Batteriewerk in Trondheim eröffnet oder die Stadtwerke München sich am Ausbau der norwegischen Windenergie beteiligen. Tatsächlich sind aber auch sehr viele KMUs in Norwegen aktiv, die Glas für das neue Nationalmuseum, Logistiksysteme oder Abfallsortieranlagen liefern. Wir betreuen mehr als 350 dieser Unternehmen bei ihren Marktaktivitäten in Norwegen, insbesondere im Bereich Bau und Infrastruktur. Weitere Geschäftschancen bieten sich durch den Ausbau der Energieinfrastruktur und den Einsatz von Medizintechnik mit Fokus auf E-Health, bei Digitalisierungsprojekten, insbesondere hinsichtlich KI und FinTech, sowie im Bereich der Aus- und Weiterbildung in industriellen Berufen. „Made in Germany“ ist eine starke Marke, und Norwegen sieht deutsche Unternehmen zurecht als qualitätsorientiere Kooperationspartner. Aber Außenwirtschaftsförderung funktioniert immer in beide Richtungen. Deutsche und norwegische Unternehmen können viel voneinander lernen und gemeinsam neue Lösungsansätze entwickeln.
Als die Strategie beschlossen wurde, war das Corona-Virus noch ein Fremdwort. Als reiches Land kann Norwegen umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft ergreifen. Welche Entwicklungen erwarten Sie für die norwegische Wirtschaft?
Hierzulande wird für 2020 mit einem Rückgang der Wirtschaft um fünf Prozent gerechnet. Norwegen hat plötzlich eine dramatisch hohe Arbeitslosigkeit, eine sehr schwache Krone und den Leitzins erstmals auf null Prozent gesenkt. Um die milliardenschweren Hilfsprogramme zu finanzieren, sollen große Summen aus dem staatlichen Pensionsfonds abgezogen werden. Kurzfristig ist das eine Lösung. Man darf aber nicht vergessen, dass der Fonds zur Sicherung des Wohlstands zukünftiger Generationen angelegt wurde und nicht als Rettungsschirm für Krisen.
Unabhängig von Covid-19 muss Norwegen seine Wirtschaft langfristig neu strukturieren und sich international aufstellen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei sind erneuerbare Energien, schwimmende Offshore-Windanlagen, die nachhaltige Verwaltung und Nutzung von Meeresressourcen sowie eine umfassende Digitalisierungsstrategie wichtige Themen. Ein Beispiel ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur und die Positionierung Norwegens als Rechenzentrum für internationale Konzerne wie Volkswagen. Im Zuge der wirtschaftlichen Neuorientierung ergeben sich auch Geschäftschancen für deutsche Zulieferer.
Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Norwegen haben?
Die Wirtschaftsleistung wird in den kommenden Monaten weltweit deutlich zurückgehen. Norwegen besticht mit seinen fast 5,4 Millionen Einwohnern vielleicht nicht durch seine Größe, aber durch politische Stabilität, eine solide Ökonomie und hohe Kaufkraft. Der norwegische Staat und die hier ansässigen Unternehmen wollen weiter kräftig investieren. Gerade bei Großprojekten ist davon auszugehen, dass Aufträge weiterhin vergeben und durchgeführt werden. Dies bestätigen unsere Mitglieder in einer von uns durchgeführten Konjunkturumfrage zum Geschäftsklima in Norwegen. Norwegen ist und bleibt ein attraktiver Markt für Konsum- und Investitionsgüter.
Trotzdem leidet der bilaterale Handel, wenn der norwegische Außenhandel schwächelt. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Export durch die Krise um 16 Prozent gesunken. Kritisch ist beispielsweise die Produktion von Aluminiumteilen, wenn die Nachfrage wegbricht und Produktionsstandorte in Deutschland vorübergehend geschlossen werden. Ein weiterer Punkt ist die Energieversorgung: Obwohl es derzeit keine Lieferengpässe gibt, wird der Wert der ausgeführten Produkte sinken, in diesem Fall der Öl- und Strompreis.
Wo sehen Sie die größten Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Geschäftsgebaren in Deutschland und Norwegen?
Da die Mentalität sehr ähnlich scheint, werden die feinen Unterschiede in der Arbeits- und Geschäftskultur oftmals unterschätzt. Entscheidungsprozesse, Hierarchien, die Kommunikation oder der Managementstil unterscheiden sich mehr als erwartet. Deutsche sind formeller, haben stärker ausgeprägte organisatorische Hierarchien und ein höheres Planungsbedürfnis. Norweger sind stets per Du und generell sehr gruppenorientiert. Das Management ist um Konsens bemüht und bezieht die Meinungen von Mitarbeitern in Entscheidungsprozesse ein, weshalb diese etwas länger dauern können. Im Büroalltag sind Norweger übrigens legerer gekleidet, und bei Meetings ist man mit „Business Casual“ auf der sicheren Seite.
Wer noch keine Erfahrungen im norwegischen Markt hat, dem empfehlen wir ein interkulturelles Training, um die Anbahnung von Geschäftskontakten, Vertragsverhandlungen oder die Führung interkultureller Teams erfolgreich zu gestalten.
Sie selbst sind seit einem Jahr als Geschäftsführer in der AHK Norwegen tätig und vor mehr als 20 Jahren waren Sie schon mal als Praktikant dort aktiv. Was sind für Sie die größten Unterschiede in der norwegischen Wirtschaft, die Sie jetzt wahrnehmen?
Mitte der 90er Jahre hatte Norwegen gerade den Ölfonds gegründet, der heute der größte Staatsfonds der Welt ist, und die Geschäftsstrategie internationaler Konzerne beeinflusst. Damals hatte Norwegen auch den ältesten Fuhrpark Europas, heute ist das Land Vorreiter in der Elektromobilität. Als drittes möchte ich die Entwicklung im E-Government nennen. Neun von zehn Einwohnern haben sich für die digitale Kommunikation mit den Regierungsbehörden und Gemeinden registriert. Sämtliche administrativen Vorgänge werden per Mausklick erledigt, und die Post von öffentlichen Einrichtungen landet im digitalen Briefkasten. Mit Ausnahme der norwegischen Einwanderbehörde musste ich mich bei meinem Umzug nach Norwegen nicht persönlich vorstellen. Seitens der Bürger gibt es kaum Bedenken bezüglich des Datenschutzes, was schon sehr einzigartig ist.
2020 ist Norwegen ein sehr stark entwickeltes Land, das bei vielen Themen ein strategischer Partner für Deutschland sein kann, weil es bei der Digitalisierung vorangeht, sich stark für Nachhaltigkeit engagiert und innovative Lösungen testet, die auch für andere Länder interessant sein können.
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Informationen zur Deutsch Norwegischen Handelskammer finden Sie unter https://norwegen.ahk.de/
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