Auf dem Weg der Wiederherstellung

Grüner, digitaler und widerstandsfähiger - diesen Anspruch der EU will Portugal während seiner Ratspräsidentschaft vorantreiben. Das Land selbst verfügt über gute Voraussetzungen wie Sonne-, Wind-, Lithium- und Wellenenergie sowie Hidden Champions in biometrischer Kontrolle. Chancen für deutsche KMU sieht Miguel Crespo in agilem Handeln und Netzwerken über neue Kanäle.

Auf dem Weg der Wiederherstellung
Im Gespräch mit
Miguel Crespo
Handels- und Wirtschaftsrat der Botschaft von Portugal und Leiter des Berliner Büros von Aicep Portugal Global, der portugiesischen Entwicklungsagentur

Sehr geehrter Herr Crespo, seit dem 1. Januar 2021 hat Portugal die EU-Ratspräsidentschaft inne. Was erhoffen Sie sich davon?

Es besteht ein kollektives Bewusstsein, dass dies herausfordernde Zeiten sind und die Zukunft ein noch stärker vereintes Europa erfordert. Portugal tritt die direkte Nachfolge der EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland an und führt somit das Berliner Vermächtnis fort.

Die europäischen Länder haben bei der Reaktion auf die Pandemie bisher eng zusammengearbeitet, ihre wissenschaftlichen und operativen Anstrengungen gebündelt, ein europaweites Paket im Wert von 1,8 Billionen Euro verabschiedet und nicht zuletzt das Brexit-Abkommen mit einem Land geschlossen, das zwar nicht mehr EU-Mitglied ist, aber Teil Europas bleibt.

Unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft beginnt der Weg in Richtung Wiederherstellung, zunächst im Gesundheitsbereich mit einem umfassenden Impfplan, der durch die Koordinierung der EU-Kommission ermöglicht wird. Dann gibt es die Großprojekte, bei denen Europa den Anspruch hat, führend zu sein, und die während der portugiesischen Präsidentschaft vorangetrieben werden sollen. Allen voran die Umweltschutzagenda mit der Dekarbonisierung der Wirtschaft, die Neuerfindung der Mobilität durch Förderung von Sharing und Elektroantrieb sowie ein Neustart der Bahn. Angesichts der Bedeutung des freien Handels für die Gesellschaftsentwicklung sucht Europa die Nähe großer Partner: Indien, Afrika oder Lateinamerika, mit denen Portugal durch historische Bande verbunden ist und zu denen die diplomatischen Beziehungen besonders eng sind.

Gibt es Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

Die Herausforderungen sind größer, die Visibilität auch, so dass die Verantwortung gleichzeitig motivierend ist. Unsere Tätigkeit als Handelsabteilung der Botschaft von Portugal und als staatliche Agentur für Investitionen und Außenhandel – Aicep – in Berlin wird sich wegen der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft voraussichtlich nicht wesentlich ändern.

Trotz der Herausforderungen für die normalen Abläufe, vor die Volkswirtschaften und Märkte weltweit wegen der Pandemie gestellt sind, hat Aicep noch 2020 die Kampagne „Portugal Open for Business“ gestartet. Und tatsächlich hat die Darlegung dieses Faktes das Interesse deutscher Unternehmen an Investitionen in Portugal oder einer noch besseren Ausnutzung des Potenzials portugiesischer Produzenten als Nearshoring-Zulieferer geweckt. Gleichzeitig spüren wir, wie noch nie zuvor, das gewachsene Interesse der größten portugiesischen Unternehmen, sich direkt auf dem deutschen Markt niederzulassen. In beiden Fällen ist die Unterstützung von Aicep zunehmend gefragt.

Corona hat die Wirtschafts-Welt seit fast einem Jahr im Griff. Welche Folgen hatte dies bis jetzt in Portugal?

Nach Ablauf eines Jahres seit Ausbreitung  der Epidemie können wir feststellen, dass die Pandemie, die ja bekanntlich keine Grenzen kennt, letztlich auf alle europäischen Volkswirtschaften ähnliche Auswirkungen hatte, wenn auch nicht immer zum selben Zeitpunkt und in unterschiedlicher Stärke in den einzelnen Bereichen.

Der in Portugal am meisten betroffene Sektor ist natürlich der Tourismus durch seine besonders starke Abhängigkeit von der durch hervorragende Qualitätsstandards angeregten Auslandsnachfrage, die jedoch unter den eingeschränkten Reisebedingungen sehr gelitten hat. So wird mit einer vollständigen Erholung im Jahr 2021 auch noch nicht zu rechnen sein, wir gehen jedoch davon aus, dass Portugal aufgrund der sich ändernden Reisegewohnheiten des europäischen Urlaubers, der mehr auf Nachhaltigkeit achtet und Massentourismus meidet, gestärkt aus dieser Situation hervorgehen wird.

Der Automobil- und Investitionsgütersektor, die beide eine bedeutende deutsche Präsenz aufweisen, haben ebenfalls gelitten, hier stehen die Zeichen für 2021 jedoch bereits wieder auf Aufschwung.

Im Gegensatz dazu verzeichneten andere Branchen, mit ebenfalls starker Internationalisierungskomponente, 2020 ihre größten Erfolge: Informationstechnologien, (besonders in Programmierzentren), Lifesciences, Fahrräder (größter Hersteller Europas) sowie Zweiradausrüstungen; aber auch im Lebensmittelbereich, wo die Nachfrage der europäischen Verbraucher nach Qualitätsprodukten das portugiesische Angebot hervorgehoben hat.

Aus struktureller, langfristiger Sicht betrachtet, bietet sich ebenfalls ein günstiges Bild. So ist Portugal Vorreiter auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien und liegt beim Verbrauchsmix weit über dem europäischen Durchschnitt.

Portugal verfügt über alle Voraussetzungen, um mit Solar-, Wind-, Lithium- und in Zukunft auch Wellenenergie eine Art Ölstaat der erneuerbaren Energien zu werden, und ist durchaus in der Lage, dafür eigene Technologien zu entwickeln. Im Solarbereich wurde bei den kürzlich durchgeführten Stromauktionen ein Weltrekord mit dem niedrigsten kWh-Wert erzielt. Die Aussicht auf Speicherung durch Batterien oder Umwandlung in Wasserstoff bedeutet einen Paradigmenwechsel, nicht nur für das Land, sondern für ganz Europa.

Die Nachwirkungen von Covid werden ein weiteres Phänomen forcieren, das wir schon seit 2018/2019 bemerken: Handelskriege zwischen den Wirtschaftsblöcken haben die unmittelbare Notwendigkeit der Verkürzung der Logistikketten gezeigt. Und diesbezüglich weckt Portugal zunehmend das Interesse von Industrieunternehmen, die das Risiko ihrer Lieferketten senken wollen, indem sie wettbewerbsfähig in Europa produzieren.

Und wie sieht es mit den deutsch-portugiesischen Geschäftsbeziehungen angesichts der Pandemie aus?

Die Beziehungen sind strukturell sehr eng, und die Pandemie, die wir gemeinsam durchstehen, hat sie noch weiter gestärkt. So gibt es beispielsweise seit Februar 2020 ein wöchentliches Meeting zwischen der Botschaft und Aicep in Berlin auf der einen und der Deutsch-Portugiesischen Industrie- und Handelskammer in Lissabon auf der anderen Seite, bei dem es ganz praktisch um die direkte Unterstützung der Unternehmerinteressen auf beiden Seiten geht. Nichts  belegt jedoch deutlicher die Stärke der Beziehungen, als die Tatsache, dass Portugal als Partnerland der ersten Hannovermesse im Präsenzformat im Jahr 2022 ausgewählt wurde.

Der Handel zwischen Portugal und Deutschland ging 2020 natürlich genauso zurück wie mit den anderen Ländern: Unser Export schrumpfte um 11 Prozent, der Import um 15 Prozent. Trotzdem bleibt Deutschland das drittwichtigste Empfängerland portugiesischer Ausfuhren, die sich 2020 auf 11,8 Prozent beliefen, sowie mit 13,3 Prozent zweitwichtigster Lieferant. Resilienz gilt als Selbsverständlichkeit in den privilegierten Beziehungen zwischen Portugal und Deutschland, die sich immer mehr auf Branchen konzentrieren, deren Schwerpunkt mehr auf Technologie, Kapitalintensität und Einbindung von F&E liegt.

Reisebeschränkungen sind das größte Problem für Geschäftsleute im Auslandsgeschäft, so eine DIHK-Umfrage. Wie klappt es mit Dienstreisen nach Portugal?

Der Geschäftstourismus, in dem Deutschland mit seinen internationalen Messen unangefochtener Spitzenreiter ist, wurde strukturell schwer getroffen. Nun lohnt es nicht, sich mit den kurzfristigen Schwankungen zu befassen, denn unsere Prognosen stimmen in zwei Wochen möglicherweise ohnehin nicht mehr. Besonders bei den Geschäftsreisen ist es die neue Normalität, dass sie immer weniger die Norm sind. 

Ich kann Ihnen berichten, dass die portugiesischen Unternehmen sehr positiv reagiert und ihre Digitalisierungspläne von drei bis vier Jahren auf ein Jahr zusammengeschoben haben, wie es ganz sicher auch auf der deutschen Seite geschehen ist. Den Märkten ist Leere ein Graus und sie werden immer neue Kanäle finden, über die die Wirtschaftsakteure in Verbindung bleiben.

Vor 35 Jahren ist Portugal der EU bzw. dem Vorläufer EG beigetreten. Was waren in wirtschaftlicher Hinsicht die größten Veränderungen in Portugal in dieser Zeit?

Die Herausforderungen, die Portugal nach dem EU-Beitritt gemeistert hat, lassen sich unmöglich in einem Absatz zusammenfassen. Portugal ist ein kulturell offenes Land, in dem sich nicht nur die Eliten klar zu Europa bekennen. Der politische und soziale Beitritt vollzog sich sofort in einem Land, dessen Bevölkerung zu einem wesentlichen Teil im Ausland lebt und wo beispielsweise Filme im Fernsehen noch nie synchronisiert worden sind.

Aus wirtschaftlicher Sicht dauerte die Transformation vielleicht eine Generation. Der Wandel von einem begrenzten Markt in der südwestlichen Ecke Europas zu einem einzigen Markt, der sich von Sagres, dem südwestlichsten Zipfel des europäischen Kontinents, bis nach Helsinki erstreckt, brauchte Zeit und wurde von einer neuen, gut ausgebildeten Generation durchgeführt.

Im Verlaufe dieser Jahre lernten die Unternehmer, sich über die Pyrenäen hinauszuwagen, zunächst nur mit guten, wenn auch nicht markengeschützten Produkten, um heute in den verschiedensten Bereichen den Ton anzugeben und in der Wertschöpfungskette immer stärkere Glieder zu bilden. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die Firma, die die von den besten Olympia-Kanumannschaften einhellig bevorzugten Nelo Kayaks herstellt, ein portugiesischer „Hidden Champion“ ist? Und dass wir mit Visionbox einen weiteren „Hidden Champion“ bei biometrischen Kontrollen auf Flughäfen haben?

Jetzt hat sich die EU auf die Fahnen geschrieben grüner, digitaler und widerstandsfähiger zu werden. Wie sieht es bei diesen Themen in Portugal aus?

Ich denke, es ist nicht so sehr die Frage, wo wir stehen, sondern eher, wo wir hinwollen. Portugal verfügt über die Voraussetzungen, das europäische Engagement auf allen diesen Gebieten zu verstärken.

Beim E-Government nimmt Portugal seit mehr als einem Jahrzehnt eine Vorreiterrolle in Europa ein. Die öffentliche Verwaltung hat in all ihren Aufgabenbereichen eine hochentwickelte Schnittstelle zu den Bürgern. So können die Bürger z.B. ihren steuerlichen Verpflichtungen in einem ausgesprochen anwenderfreundlichen System nur noch online nachkommen.

Grün ist nicht nur ein Teil unserer Nationalflagge; angefangen bei der nachhaltigen Landwirtschaft bis hin zur Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen, bietet das Land fruchtbaren Boden für Produktions- und Investitionsmöglichkeiten und verfügt über maßgebliche innovative und technologische Entwicklungskapazitäten.´

Die Widerstandkraft ist ein charakteristisches Merkmal Portugals in seiner neunhundertjährigen Geschichte, das in Europa ausnahmslos anerkannt wird. Die Widerstandsfähigkeit wurde an der Art und Weise gemessen, wie Portugal ohne größere politische oder soziale Umwälzungen die Finanzkrise, die die Länder Südeuropas zu Beginn des letzten Jahrzehnts erschütterte, überwunden hat.

Resilienz misst sich im offenen Raum, regeneriert sich von innen nach außen, und in dieser Hinsicht ist die privilegierte Fähigkeit, Brücken nach Afrika und Lateinamerika zu schlagen, nicht zu unterschätzen. 

Wo sehen Sie bei diesen Themen die besten Chancen für deutsche KMU sich in Portugal zu engagieren, sei es im Ex- oder Import oder mit Investitionen?

Sie hätten keine bessere Frage zum Abschluss dieses Interviews stellen können. Bisher wurden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Portugal und Deutschland eher von den großen Unternehmen auf beiden Seiten dominiert. Dies gilt beispielsweise nicht für die – bezogen auf das jeweilige BIP ­ ebenso starken bzw. intensiveren Beziehungen Portugals zu Frankreich, der Schweiz oder Spanien, wo das Gewicht gleichmäßiger auf das gesamte Unternehmensspektrum aufgeteilt ist und die KMUs die führende Rolle spielen.

Der deutsche Mittelstand leitete seinen Internationalisierungsprozess mit dem Ende des Eisernen Vorhangs ein und nutzte die Nähe zum Osten, die unmittelbare kulturelle Verbundenheit. In gleicher Weise gingen auch die portugiesischen Unternehmen vor und expandierten konzentrisch zuerst nach Spanien, Frankreich oder in die Schweiz und erst danach ins Vereinigte Königreich. Die Sprachbarriere spielte anfangs auch eine Rolle, so dass die Verbindung zwischen Deutschland und Portugal meistenteils über DAX-Unternehmen mit Industrieniederlassung in Portugal hergestellt wurde.

Die Zukunft sieht anders aus und gehört den Unternehmen, die im Netzwerk und mit digitaler Untertützung viel agiler vorgehen können als die Großunternehmen. Genau auf dieser Ebene gibt es für die deutschen Firmen ein Meer von Verbindungsmöglichkeiten zu Unternehmen und wissenschaftlich-technischen Talenten aus Portugal zu entdecken. Talent ist im Übrigen Portugals wichtigster Wettbewerbsvorteil – wettbewerbsfähiges und innovatives Talent. Selbst in Pandemiezeiten ist und bleibt Portugal ein Land, das Investitionen anzieht und Vertrauen bei den Investoren genießt. Wir von Aicep Berlin stehen jederzeit als erster Ansprechpartner mit direkter Unterstützung zur Verfügung.


Mehr über die portugiesische Entwicklungsagentur erfahren Sie bei Aicep.

Hinweise zu Geschäftsbedingungen in Portugal erhalten Sie in der Länderinformation Portugal des EuropaService.

Geschäftspartner in Portugal können Sie beim EuropaService im Bereich Kooperationsservice entdecken.

Iris Hemker
Länderinfos, Kooperationsservice


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